Ulrike Fecke: Liebe Claudia, Du bist ja mit Deinen 56 Jahren noch gar nicht so alt. Wie kommst Du dazu, ein Märchen zu schreiben, in welchem es um die Frage des Altwerdens geht?
Claudia Törpel: Das Märchen stellt weniger die Frage, worin das Altwerden besteht – das ist ja auch für jeden Menschen anders. Es stellt vielmehr die Frage: Was wäre, wenn es das Altwerden nicht gäbe? Es ist das umgekehrte Motiv zum Tithonos-Mythos bei Ovid. Tithonos erlangt die Unsterblichkeit, nicht aber die ewige Jugend. Er kann nicht sterben, aber er altert und wird schließlich zur Zikade. In meinem Märchen ist es umgekehrt: Hier sind die Menschen sterblich, aber sie dürfen nicht altern, das wird ihnen per Gesetz verboten. Das heißt, der Tod reißt sie irgendwann ganz plötzlich aus dem Leben, ohne dass sie darauf vorbereitet sind.
UF: Deine Protagonistin Hannamira lässt sich das Altern trotzdem nicht nehmen; sie flieht in den Uhlenwald. Worin besteht der Prozess des Alterns bei ihr?
CT: Ein Gedanke, den ich dabei hatte ist, dass die zunehmende äußere Eingeschränktheit im Alter oft mit einem umso aktiveren Innenleben einhergeht. So geht es auch Hannamira: Sie entwickelt im Laufe der Geschichte ein immer beweglicheres Denken, durch das sie die Kreisläufe des Lebens verstehen lernt.
UF: Welche Rolle spielt bei dem Ganzen der Uhlenwald?
CT: Der Uhlenwald ist ein Bereich, in welchem man alt werden darf – und alt werden kann, sofern man Altern auch als eine Fähigkeit auffasst. Der Wald ist allerdings selbst in Gefahr, weil diese Fähigkeit immer seltener wird. Er ist eine Art Zauberwald, der die Menschen vor bestimmte Herausforderungen stellt und ihnen damit zugleich Hilfestellungen gibt.
UF: Was wäre in diesem Sinne das Alter?
CT: In dem Märchen wird das so ausgesprochen: Altwerden bedeutet, dem Tod entgegen zu reifen. Das muss aber keineswegs eine Abkehr vom Leben bedeuten, im Gegenteil: Die Liebe zum Leben vertieft sich. Bei Hannamira ist das dadurch ausgedrückt, dass sie früher Pilotin war und das Leben überwiegend von »oben« gesehen hat. Indem sie in den Uhlenwald eintritt, lernt sie es mehr von innen kennen, das heißt die Erscheinungen in der Natur offenbaren sich von ihrem »Inneren«, von ihrer Entwicklungsdynamik her. Das wird auf der bildhaften Ebene des Märchens angedeutet.
Ein anderer Aspekt ist eine gewisse innere Freiheit, die man bei alten Menschen oft beobachten kann, gerade dadurch, dass sie sich mitunter dem Kindlichen wieder annähern. Das kann heißen, dass sie wieder staunen können und sich über Kleinigkeiten freuen. Und das kann auch heißen, dass sie alte Konventionen über Bord werfen und Dinge tun, die Verhaltensapostel ablehnen würden.
Zugleich beinhaltet Altwerden, dass man sein Selbstwertgefühl immer weniger auf einen attraktiven funktionstüchtigen Körper stützen kann. Es ist ja ein allmählicher Ablösungsprozess, bei dem geistige Kräfte freiwerden. Bei Hannamira kommt hinzu, dass sie lernt, mit der ›Uhlenbarke‹ zu fliegen, einem Gefährt, das sich zwischen diesseitiger und jenseitiger Welt bewegt. Sie erhält außerdem Einblicke in das Gebiet des Nachtodlichen bzw. Vorgeburtlichen.
UF: Was ist mit der Angst vor dem Tod?
CT: Hannamira hat keine Angst vor dem Tod, weil sie schon in jungen Jahren eine Begegnung mit dem Tod hatte, als sie einen Unfall nur knapp überlebt hat. Für sie ist der Tod (der im Märchen als menschliche Figur auftritt) ein Freund. Sie weiß, sie wird ihn wiedertreffen, wenn sie stirbt, und darauf freut sie sich. Aber das heißt trotzdem nicht, dass sie sich danach sehnt, zu sterben. Einmal versucht sie sogar, einen Menschen vom Selbstmord abzuhalten, indem sie zu ihm sagt: »Das Leben ist zu kostbar, um es wegzuwerfen«.
UF: In dem Märchen geht es auch um das Jenseits, einen Bereich, der heute von vielen Menschen als unwirklich angesehen wird.
CT: Ja, das Jenseits ist dort eine selbstverständliche Realität; letztlich geht es um den Kreislauf von Leben und Tod. Aber auch wenn man als Leser nicht an ein Jenseits glaubt – es ist ja eine Geschichte, und auf die kann man sich einlassen, kann mit den bildhaften Vorstellungen umgehen.
UK: Hast Du Dich dabei von Äußerungen Rudolf Steiners anregen lassen?
CT: Die Anthroposophie hat mich insgesamt stark geprägt, und das ist dann beim Schreiben mit eingeflossen. Allerdings muss auch hier bedacht werden, dass es ein Märchen ist und dass es keine Schilderung von Rudolf Steiners komplexen Ausführungen geben kann oder will. Für die Leser ist es auch nicht nötig, das zu wissen; es richtet sich also nicht explizit an eine anthroposophisch orientierte Leserschaft.
UF: Im Märchen gibt es meist auch einen Bösewicht. Gibt es den auch bei Dir?
CT: Es gibt den Chef des Unternehmens ›Jungbrunn‹, der aus der Angst der Menschen vor dem Altwerden Nutzen zieht und sich zum Weltherrscher aufschwingt. Für ihn ist Altern eine Krankheit, und Krankheiten möchte er ausrotten. Er ist die Gegenfigur zu Hannamira und ein Diktator, der sich als Wohltäter feiern lässt. Während Hannamira die Herausforderungen des Alters annimmt, lehnt er jede Weiterentwicklung ab. Er repräsentiert eine Weltanschauung, der er bis zum Schluss treu bleibt. Und seine Diktatur entfaltet eine ungeheure Macht.
UF: Inwiefern wirst Du der Gattung des Märchens gerecht? Es spielt ja in der Jetztzeit oder sogar in der Zukunft.
CT: Es ist insofern ein Märchen, als es mit Bildern arbeitet und eine sehr dichte Handlung hat. Das heißt, es geht mit Erklärungen und Schilderungen von Gefühlen eher sparsam um. Charakterisierungen und innere Entwicklungen ergeben sich nicht aus detaillierten realistischen Beschreibungen, sondern aus den Bildern und den Handlungsweisen der Personen. Das kennt man zwar von den alten vertrauten Volksmärchen, aber wenn die Handlung in der Jetztzeit spielt, ist das ungewohnt und erfordert eine gewisse Eigenaktivität des Lesers. Auch ist die bildhafte Ebene nichts Starres; Märchenbilder sind immer vielschichtig und vieldeutig.
UF: Im Hinblick auf das traditionelle Märchen gibt es allerdings auch Brüche.
CT: Die gibt es. Bestimmte Erwartungen wollte ich einfach nicht erfüllen, zum Beispiel die des heldenhaften Sieges über das Böse. Das ergab sich allein schon aus der Figur des Diktators, welcher der Meinung ist, er sei der Gute und müsse das Böse besiegen. Wenn dann ein anderer kommt und sagt: »Stimmt nicht: Ich bin der Gute und Du der Böse, also muss ich Dich besiegen«, ist das in meinen Augen etwas fragwürdig.
UF: Was ist mit Erlösung?
CT: Eine Alternative zum Sieg über das Böse wäre die Erlösung des Bösen. Die wird in vielen Märchen sehr sinnvoll und glaubhaft umgesetzt, aber in meinem Märchen hätte das nicht gepasst. Mir war wichtig, dass sich das »Böse« in seiner positiven Funktion zeigt, nämlich dass andere daran wach werden und sich dadurch weiterentwickeln. Das »Böse« wird hier nicht erlöst oder besiegt; ihm wird lediglich der Boden entzogen.
UF: Das klingt, als hättest Du Dir das alles im Vorhinein ausgedacht.
CT: Nein, keineswegs. Die Ideen sind alle erst beim Schreiben gekommen. Am Anfang wusste ich nur, dass es um den Sinn des Altwerdens gehen sollte. Und die eigentliche Inspiration war der Name ›Hannamira‹. Daraus ist dann ein erster Satz entstanden, dann ein zweiter usw. Es hat ein halbes Jahr gedauert, bis ich damit fertig war.
UF: Brechungen in Bezug auf die Märchenform entstehen auch durch den Humor.
CT: Ja, ohne den ging es nicht. In dem Märchen gibt es Szenen, die eine große bildhafte Wucht besitzen. Dadurch entstand in mir das Bedürfnis, etwas Auflockerndes dagegenzusetzen, bei dem der Leser schmunzeln kann. Aber auch die Figur des Diktators konnte und wollte ich nicht nur ernsthaft schildern. Ich wollte ihn in seiner Banalität zeigen und dachte dabei auch an alte Aufnahmen von Hitler, wie lächerlich das heute wirkt – fast wie eine Witzfigur. Daher wirkt auch der Diktator in meinem Märchen ein wenig karikaturhaft, aber für mich ist das stimmig.
UF: Was ist mit den Gemälden? In dem Buch gibt es ja zu jeder Textseite eine Bildseite. Die Bilder stammen von der Künstlerin Jasminka Bogdanovic aus Basel. Wie kam es dazu?
CT: Jasminka hat mein Märchen gelesen und wollte gerne die Bilder dazu malen. Sie hat sich dafür ganz und gar in die Stimmung des Märchens versetzt, deshalb sind sie so gut geworden. Ihre Bilder zeugen von einer tiefen Auseinandersetzung mit dem Märchen und greifen auch das Humorvolle darin auf.
UF: Es sind ja keine gegenständlichen Bilder. War das von Anfang an so geplant?
CT: Zu Anfang konnte ich mir schwer vorstellen, wie das gehen soll, aber Jasminkas Bilder haben mich überzeugt; besser hätte ich mir das nicht wünschen können. Ich finde es auch viel stimmiger, dass es keine Illustrationen sind, die nur Geschriebenes wiedergeben. So wie es jetzt ist, stehen sich Bild und Text gleichwertig gegenüber und es kann zu einem Dialog zwischen Geschriebenem und Gemaltem kommen.
UF: Ich danke sehr für das Gespräch.
Ein Ausschnitt ist auch zu lesen in „mittendrin“ aus Berlin (PDF)